Lüchow
Datum: 2. Juni 1967
Zeitraum: 1961 - 1970
Bildunterschrift in der EJZ vom 3. Juni 1967 zu diesem Foto:
"WILLY BRANDT gestern auf der Freitreppe in Lüchow. Er sprach von umfangreichen Aufgaben der neuen Regierung. „Wir sind noch nicht dazu gekommen, das sage ich ganz offen, was die Zonenrandgebiete angeht, jene Koordinierung zu erreichen, die alle Sachverständigen für nötig halten.“ — Durch einen Regiefehler der Wahlreiseleitung mußte die Bevölkerung auf dem Marktplatz unnötig lange warten; die öffentliche Ansprache hätte vor der Zusammenkunft im Ratskeller eingeplant werden sollen."
Der Bericht dazu:
Vizekanzler Willy Brandt
Randgebiet darf nicht verkümmern
Keine Versprechungen, aber Zuversicht - Blitzreise des SPD-Chefs
Lüchow. Man dürfe den Glauben an die Zukunft auch dieses Landkreises nicht verlieren, denn was heute wie ein Grenzgebiet erscheine, werde eines Tages wieder die Mitte Deutschlands sein, erklärte Bundesaußenminister und Vizekanzler Willy Brandt gestern vor zahlreichen Vertretern des öffentlichen Lebens im Lüchower Ratskeller. Durch eine Politik des Abbaues der Spannungen zwischen Ost und West würden auch die deutschen Dinge schrittweise wieder in Fluß kommen. Kleine Schritte aber seien für die Menschen bedeutender als große Worte, meinte Brandt.
Der Blitzbesuch Willy Brandts begann gestern in Bergen. Von dort aus erreichte der Außenminister mit Blaulicht-Polizeieskorte in sehr schneller Fahrt die schützenfestlich geschmückte Wendlandmetropole. Daß die vielen Flaggen an den Häusern nicht seinem Besuch galten, mag der SPD-Parteichef an einigen schwarz-weiß-roten Fahnen erkannt haben, die immer noch an den Schützenfesttagen in Lüchow hier und da in Erscheinung treten. Sehr viele Menschen hatten sich auf dem Lüchower Marktplatz eingefunden, als Willy Brandt fünf Minuten früher als geplant hier eintraf. Die Kapelle Bachmann gab ein Platzkonzert — jedoch nicht auf Kosten der Gilde.
Im Ratskellersaal begrüßte Landrat Freiherr v. d. Bussche vor zahlreichen Vertretern des öffentlichen Lebens den hohen Gast. Oberkreisdirektor Paasche urnriß kurz die Situation irn östlichsten Kreise Niedersachsens und nannte die brennendsten Probleme wie Überalterung der Bevölkerung, hohe Arbeitslosenquote. Verkehrsferne und die vielen damit verbundenen Nachteile. Gezielte Hilfen und Steuererleichterungen — ähnlich wie in Berlin — könnten die Not lindern, aber bishei sei trotz vieler Versprechungen nichts in dieser Richtung geschehen, stellte der Oberkreisdirektor fest und sagte: „Wir sind nahe daran, zu resignieren!“
Bundesaußenminister Willy Brandt bemerkte einleitend, daß die anstrengenden Wahlreisen auch Vorteile hätten: Man komme viel herum und lerne die Verhältnisse kennen. Diesen Teil des Zonengrenzbereiches kannte Brandt noch nicht, und er zeigte sich interessiert für die hiesigen Sorgen. Viele Probleme sind ihm von Berlin her bekannt, denn es gibt zahlreiche Parallelen vom Zonenrandgebiet zur geteilten deutschen Hauptstadt. Brandt vermied Wahlparolen und Versprechungen, aber er bekundete den guten Willen für eine konstruktive Politik, die verhindern soll, daß diese schönen Gebiete entlang der Willkürgrenze verkümmern.
In seinen weiteren Ausführungen beleuchtete der Vizekanzler innen- und außenpolitische Aufgaben und verwies auf große Strukturprobleme, die anzupacken sind. So würden beispielsweise in den nächsten Jahren rund 70- bis 80.000 Arbeitskräfte im Kohlenbergbau und 20.000 in der Stahlindustrie freigestellt werden, und man werde eine Form finden müssen, um eine im Grundgesetz garantierte Ausgewogenheit für die gesamte Bevölkerung zu erreichen. Brandt redete nicht eventuellen Zwangsmaßnahmen das Wort, forderte jedoch weniger Voreingenommenheit gegenüber Planungen von Staat, Wirtschaft und Wissenschaft. Die Bundesregierung habe sich neben der laufenden Arbeit mehrere Schwerpunktaufgaben vorgenommen. Man sehe in Bonn immer klarer, daß viele Jahre eine regionale Strukturpolitik zu betreiben sein werde.
Der Außenminister erklärte weiter, daß Anzeichen für eine Stabilisierung der Wirtschaft vorhanden seien, die im Laufe des Jahres zu einer Verstärkung der Kaufkraft und zur Vollbeschäftigung führen werde. Im nächsten Jahr sei mit einem angemessenen Zuwachs des Sozialprodukts zu rechnen. Während der ¾-stündigen Zusammenkunft im Ratskeller wurden die zahlreichen Menschen auf dem Marktplatz ungeduldig, bis ein Regenschauer mit Hagelschlag alle in volle Deckung schickte. Laute Pfiffe und Buu-Rufe auf dem Marktplatz galten jedoch nicht Willy Brandt, sondern einigen NPD-Mitgliedern, die ein großes Spruchband entrollten und trotz der Mißfallensäußerungen den Platz nicht verließen. Der Minister schenkte dem NPD-Transparent keine Beachtung, als er von der Freitreppe des Ratskellers aus zur Bevölkerung sprach und hier noch einmal in aller Sachlichkeit die Aufgaben und Ziele der Regierung wiederholte, vor allem: Stabilität und Friedenssicherung, Verzicht auf Gewalt, keine Isolierung der Bundesrepublik, ein weiter gemeinsamer Markt.
Stellvertretender Landrat und SPD-Landtagskandidat Mechow dankte unter dem Beifall der Zuhörer Willy Brandt für seinen Besuch in Lüchow. Dann ging es in schneller Fahrt nach Schnackenburg und von dort nach einer Mittagspause nach Dannenberg. Ein paar auswärtige NPD-Propagandisten, verstärkt durch hiesige Mitglieder, klebten wie Schmeißfliegen an der Kolonne und entrollten ihr Spruchband. In Dannenberg kam es dabei zu einem Zwischenfall, als ein Zuhörer dagegen protestierte, daß die NPD-Leute in seiner unmittelbaren Nähe das Transparent schwenkten. Ein NPD-Plakat-Träger schlug den Dannenberger Einwohner, und dieser erstattete Anzeige bei der Polizei. Der NPD-Mann weigerte sich, seine Personalien anzugeben, aber ein Polizeibeamter erkannte diesen auswärtigen Propagandamann, weil er wegen eines Unfalles vor einigen Tagen vernommen worden war. Außenmnister Brandt ließ sich durch diesen Vorfall nicht provozieren. Nachdem die NPDisten ihr Spruchband eingerollt hatten, hielt er seine Ansprache. tt
Autor/-in:
Kurt
Schmidt (tt)
Quelle:
Axel
Schmidt
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