Lüchow
Christoph Meyer fuhr im August 1965 für 2,60 D-Mark von Lüchow-Süd (Station 01) nach Schmarsau (Station 10) und zurück.
Sein Bericht "Schülerzug nach Schmarsau" wurde bereits mehrfach, unter anderem in "Die Museumsbahn" (Ausgabe 4/2005), veröffentlicht:
"Was macht ein eisenbahnbegeisterter Vater mit seinen beiden Söhnen im Urlaub? Klar: Man fährt Bahn! Und da der Urlaubsort im Wendland gelegen ist, bietet sich die Lüchow-Schmarsauer Eisenbahn (LSE) für derlei Unternehmungen besonders an, Kindersommerferien in den 60er Jahren also. Wir sind im Landkreis Lüchow-Dannenberg, in Vietze an der Elbe. Und einen Tag nutzen wir „Männer“, um das Geschehen auf der LSE zu erleben.
Start ist mittags in Lüchow-Süd. Unser Vater besorgt im Bahnhofsgebäude die Fahrscheine, ausgegeben aus einem tragbaren Drucker. Den nimmt der Triebwagenführer dann mit, um auch unterwegs Fahrscheine verkaufen zu können. Wir kriegen noch etwas von der Lagebesprechung mit; der Zugleiter informiert über die mitzunehmenden Güterwagen. Dann wird es draußen lebendig: Der große Triebwagen holt die paar Güterwagen aus dem Übergabegleis zur Bundesbahn, setzt um und zieht zum Bahnsteig vor. Nun können wir einsteigen, und mit uns die vielen Schüler, die nach Hause wollen, aber auch etliche Leute, die vormittags in Lüchow etwas zu besorgen hatten und nun wieder zurück in die Dörfer des Oerings und in den Lemgow fahren. Natürlich sitzen wir nicht, sondern stehen hinter dem Fahrer, das ist viel interessanter!
So beobachten wir, wie die Blinklichtanlage an der Bundesstraße mit dem Schlüssel eingeschaltet wird. Dann verfolgen wir das Hantieren des Triebwagenführers mit den drei großen Bedienhebeln: Gas, Kupplung und Gangvorwahl. Für uns ist das verwirrend, auch das ständige Zischen der pneumatischen Steuerung. Wir bewundern, wie sanft und mit welcher Sicherheit der Zug in Gang gesetzt wird und sich auf den Weg ins gut 17 km entfernte Schmarsau macht.
Erster Halt ist in Woltersdorf. Hier muß ein offener Güterwagen ins Ladegleis rangiert werden. Es ist heiß, und die Schüler hängen aus den geöffneten Fenstern. „Kopp weg!“ ruft Fahrer Röhl laut in den Wagen, denn sonst kann er die Handsignale seines mitfahrenden Rangierers im Rückspiegel nicht sehen. Vereinfachte Bremsprobe, dann geht die Fahrt weiter durch Kiefernwald, Wiesen und Felder.
Nächster Halt ist Oerenburg, ein einsam gelegener kleiner Bahnhof. Auch hier muß rangiert werden: Ein Wagen mit Heizöl für die Brennstoffhandlung in Gartow ist ins Ladegleis zu stellen. Und es ist Fahrscheinkontrolle, auch unsere Scheine bekommen ihr Loch geknipst. Weiter rollt unser Zug durch den welligen Oering. Kurzer Halt in Thurau, dann in Lichtenberg wieder Rangierarbeit, Bremsprobe, und in weit gezogenem Linksbogen geht es nach Schweskau, dem ersten Dorf im Lemgow. Hier wird der letzte Wagen ausgesetzt, nun reicht einer der beiden Motoren für den Rest der Strecke.
Prezier, der Haltepunkt liegt weitab des Ortes, doch er wird genutzt. Der Zug ist nun leerer geworden, aber wir stehen immer noch vorne und können uns dem Reiz der durchfahrenen Landschaft nicht entziehen. Auf den Feldern beginnt die Getreideernte, teilweise noch mit Mähbindern, ab und zu säumen Hecken das Gleis. Großwitzeetze: Wieder steigen Schüler lärmend aus, schnappen sich ihre Räder, die sie morgens an das kleine hölzerne Wartehäuschen gelehnt haben und machen sich auf die letzte Etappe des Heimweges. Man erzählt uns, daß hier früher Raseneisenerz verladen worden ist, das mit einer Feldbahn herangeschafft wurde. Davon ist nichts mehr zu sehen, wohl aber etwas vom damaligen Wohlstand: Einige große prächtige Häuser in den Dörfern, Überbleibsel aus der Zeit, da man hier vom „Goldenen Lemgow“ gesprochen hat.
Kurz hinter Großwitzeetze sind noch die Reste der Wasserentnahmestelle aus der Dampflokzeit zu sehen. Und wieder fasziniert die Landschaft, ein Waldstück und dann üppig blühende Heide rechts und links am Bahndamm. Bockleben, auch hier ist fahrplanmäßig zu halten, obwohl niemand ein- oder aussteigt. Aber ein kurzer Plausch mit der Bäuerin muß sein, die ihren eingezäunten ordentlichen Garten neben der Bahn besorgt. Dann der letzte Kilometer bis nach Schmarsau, vorbei am kleinen Lokschuppen mit Übernachtungsanbau rollt T 156 an den kurzen Bahnsteig.
Der Motor wird ausgestellt, das Personal verschwindet auffällig schnell in der Bahnhofsgaststätte. Mittagspause. Sommerliche Dorfgeräusche umgeben uns. Man hört ein paar Hühner gackern. die neben den Schienen im Sand scharren. Irgendwo rasselt eine Kuh im Stall mit der Kette und muht, in der Ferne Treckergeräusch. Die Schienen knacken in der Sommerhitze, lautlos ziehen ein paar Bussarde über dem Rundlingsdorf ihre Bahn, kein Mensch ist zu sehen, die letzten Schüler sind längst zu Hause. Da steht er nun, der große Triebwagen, über vierzig Jahre alt aber tadellos gepflegt. Gebaut 1926 in Kiel, geliefert an die Mecklenburgische Friedrich-Wilhelms-Eisenbahn, über die Deutsche Bundesbahn nach Bremervörde gelangt, umgebaut und nun schon seit über zehn Jahren zwischen Lüchow und Schmarsau unterwegs.
Unwillkürlich fragt man sich, wie eine Bahn dazu kommen konnte, so einen kleinen unbedeutenden Ort zu ihrem Endpunkt zu machen. Nun, an Plänen, die Bahn nach Arendsee zu verlängern, hat es nicht gefehlt, dann hätte man wieder Anschluß an die Staatsbahn gehabt und zusätzlich über die Stendaler Kleinbahn an das verzweigte Privatbahnnetz der Altmark. Nur sind diese Pläne nie Realität geworden. Und selbst wenn, dann wäre Schmarsau doch wieder das Ende des Schienenstranges gewesen, denn unweit des Dorfes verlief die Zonengrenze, Arendsee lag in der DDR.
Kurz nach 14.00 Uhr erscheint das Personal wieder zur pünktlich anzutretenden Rückfahrt. Ein Güterwagen von der Ladestraße vervollständigt den Zug, und wir sind zunächst die einzigen Fahrgäste. In Schweskau gesellt sich ein Wagen mit Stroh dazu, und weil auch auf dieser kleinen Bahn alles mit rechten Dingen zugeht, bekommt unser Fahrschein sein zweites Loch. Nur wenige Reisende nutzen diese Nachmittagsverbindung nach Lüchow, und wir genießen ungestört das Flair dieser Landschaft, diese Abwechselung von Wiesen mit schwarzbuntem Vieh, goldenen Kornfeldern, duftenden Kiefernwäldern und den meist von Birken gesäumten Wegen, die die Gleise kreuzen. LP-Tafeln weisen den Triebfahrzeugführer auf die Bahnübergänge hin, manchmal gilt es auch, das ohnehin gemächliche Tempo noch zu drosseln.
Pünktlich sind wir in Lüchow, und unser Zug befährt den Bahnübergang mit gebotener Vorsicht. Neben uns liegen die Gleise nach Wustrow, dieser Bundesbahnübergang hat Schranken. Die sind geöffnet, doch direkt daneben blinkt das rote Licht des Kleinbahnüberweges. Aber die Einheimischen kennen das, und viel Verkehr ist in jenem abgelegenen Landstrich ohnehin nicht. Wir nehmen uns Zeit, dem Triebwagen beim Umsetzen der beiden Wagen ins Übergabegleis zuzusehen, bevor er betankt wird und in den Schuppen rollt. Auch den T 141 mit seiner markanten Flandglocke bewundern wir, einen der ersten Wismarer Schienenbusse, der die Leistungen in verkehrsschwachen Zeiten übernimmt. Dampfloks gibt es nicht mehr, und die Diesellok ist in Bleckede zur Untersuchung.
Im Sommer 1969 sind wir wieder da, nun werden wir Zeugen des Streckenabbruches, ein paar Schilder von den Bahnübergängen schenkt man uns als Erinnerung. Wehmut kommt auf, es waren doch immer so schöne Fahrten! Aber die Zeit steht auch im Wendland nicht still, Busse haben das Geschäft übernommen. Lediglich in Lüchow-Süd werden noch Wagen zugestellt, dieser Betrieb kann sich noch bis in das nächste Jahnhundert retten, erst 2003 verschwinden auch die letzten Schienen dieser liebenswerten Kleinbahn.
Es war eine ganz typische Erschließungsbahn ohne jede Industrie; eine Bahn, die für die Menschen in Oering und Lemgow da war. Keine der großen Aktiengesellschaften hat sich für sie interessiert, die Finanzlast lag bei der öffentlichen Hand, und die Betriebsführung beim NLEA, ab 1959 bei der OHE. So stehen diese Erinnerungen stellvertretend für die Bahnen in Niedersachsen, die nicht für Profite gebaut wurden, sondern um einer überschaubaren Region den Anschluß an die große weite Welt zu bringen. Diese Aufgabe haben sie mit sparsamsten Mitteln zuverlässig erfüllt, zwischen Lüchow und Schmarsau 58 Jahre lang."
Autor/-in:
Christoph
Meyer
Quelle:
Christoph
Meyer
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